Das Gefühl von Schuld ist schrecklich und es nimmt meistens alles von dir ein. Du hast vorher schon Schuld empfunden, weil du nichts getan hast. Weil du es einfach irgendwann zugelassen hast. Müde vom Kämpfen. Müde vom Nein sagen. Irgendwann ist Akzeptanz leichter, als Gegenwehr. Du behältst alles für dich, willst niemanden damit belasten. Hast Angst davor, wie sie reagieren könnten. Du veränderst dich aber, und deine Umgebung bemerkt die Veränderung. Du weißt, dass du das Geheimnis nicht mehr ewig verheimlichen kannst. Du spürst den Unmut dir gegenüber. Die Leute sehen dich vorwurfsvoll an, weil du nicht mehr so tickst, wie sie es gewohnt sind. Es zerreißt dich innerlich, dass sie dich so ansehen, als wärst du der Fiesling eines Filmes. Es macht dich krank, Vorwürfe zu hören, weil du nicht mehr so sein kannst, wie du mal warst. Veränderungen sind immer schwer zu akzeptieren. Die schwierigsten Veränderungen sind die, die an Menschen stattfinden, die man liebt. Man erkennt sie nicht wieder, weiß nicht, wie man mit der neuen Art umgehen sollte. Also reagiert man, wie Menschen immer reagieren, wenn sie mit etwas nicht umgehen können. Man reagiert mit Abneigung und Vorwürfen. „Reiß dich doch mal zusammen! Was ist bloß in letzter Zeit los mit dir!“ Du aber stehst nur da und merkst, wie du immer mehr zerbrichst. Du kannst nicht sagen, was in dir vorgeht. Du darfst nicht schwach werden. Es ist dein Geheimnis und du willst damit niemanden belasten. Du willst doch einfach nur friedlich dein Leben weiterleben. Wieso müssen die anderen jetzt auch noch auf dir herumhaken. Warum können sie nicht erkennen, dass du noch die Alte bist, aber gebrochener. Warum können sie nicht erkennen, dass alles einen Grund hat. Warum können sie nicht erkennen, dass du nur versuchst, zu überleben. Irgendwann wird dir alles zu viel, du bemerkst, dass langsam die wildesten Theorien über deinen Zustand aufgestellt werden. Du weißt, dass deine Fassade bald bröckeln muss, damit du nicht auch noch die Menschen verlierst, die du gerne hast. Du weißt, dass du was sagen musst, um nicht alles zu verlieren. Und irgendwann kommt der Tag, an dem du sprichst. Du siehst die Blicke. Du fühlst dich schuldig. Schuldig für jeden bemitleidenswerten Blick, den sie dir zuwerfen. Schuldig für jede Träne, die sie vergießen. Schuldig für das Zerbrechen ihres Bildes von dir. Schuldig, sie in diese Lage gebracht zu haben. Schuldig, nicht den Mund gehalten zu haben und dich nicht so weit im Griff gehabt zu haben, dass sie nichts bemerkt hätten. Du hast ihnen ihr Weltbild zerstört. Du hast ihnen die Sicht auf dich zerstört. Es auszusprechen war eine Qual. Dein ganzer Körper versuchte es zu unterdrücken. Dein Herz und dein Verstand haben gegeneinander gekämpft. Es löste sich einerseits ein großer Druck in dir, aber gleichzeitig entstanden neue unangenehme Gefühle. Es ist unangenehm, wenn sie dich so bemitleidenswert ansehen. Ich muss nicht bemitleidet werden, ich bin stark, ich habe gekämpft, ich kann damit umgehen, ich habe überlebt. Es breitet sich Scham in dir aus. Du schämst dich, dass sie dein schlimmstes Geheimnis erfahren haben. Du schämst dich dafür, dass sie nun wissen, dass du solange geschwiegen hast. Du schämst dich dafür, dass sie sich dich vermutlich in deiner schlimmsten Situation ganz anders vorstellen. Du schämst dich dafür, dich so verändert zu haben, dass du es sagen musstest. Du schämst dich dafür, ihnen deinen Ballast zugeworfen zu haben. Ihre Blicke sind schrecklich. Du hast Angst davor, dass sie dich nun für immer mit diesen Augen betrachten werden. Du hast Angst davor, dass es dir niemals wieder geglaubt wird, glücklich zu sein. Du hast Angst davor, dass sie einen Blödsinn mit der Person anstellen, die dir das angetan hat. Du willst doch nur deine Ruhe. Deinen Frieden finden. Du hast Angst davor, dass sie zerbrechen, und du Schuld daran bist.


Schuld ist ein sehr negativ besetztes Wort. Schuldig ist man, wenn man eine Straftat begeht. Schuldig ist man, wenn man seinen Partner betrügt. Schuldig ist man, wenn man Böses tut. Hast du etwas davon gemacht? Hast du Schuld daran, dass sich ein Mensch in deiner Umgebung nicht zusammenreißen konnte und dich einfach so berührt hat? Hast du Schuld daran, dass er nicht aufhören konnte und dein Körper und Geist eine Strategie entwickelt hat, dass du es erträgst? Die Antwort ist ganz einfach. Nein, du bist nicht schuldig. Es ist egal, ob du freizügig gekleidet warst, oder
in deinen Augen einmal zu viel gelächelt hast. Niemand, absolut niemand hat das Recht, dich zu berühren, wenn du das nicht möchtest. Du hast keine Schuld! Du bist auch nicht Schuld daran, dass sich deine Liebsten nun um dich Sorgen. Sie haben deine Veränderung bemerkt und weil sie sich so machtlos gefühlt haben, sahen sie dich mit anderen Augen. Es ist so schwer für Menschen, machtlos zu sein. Du hast ihnen nun aber vertraut und ihnen somit ihre Macht wieder zurückgegeben. Ja, sie werden am Anfang überfordert sein. Aber sie werden damit klarkommen, sogar besser, als mit dem Nichtwissen. Sie werden für dich da sein, und es wird am Anfang vielleicht sogar ein wenig nervig sein. Du bist es immerhin auch gewohnt, alleine klar zu kommen.

Aber ist es nicht schön zu wissen, dass du nicht mehr alleine bist?

Image by Freepik

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Ein Kommentar

  1. Es war gut, dass du dich deinen Lieben anvertraut hast. Du bist eine starke Frau, ihre Blicke sind voller Liebe und sie wollen dich nur auffangen, beschützen, bestärken und dir in allem Beistehen. Es gibt eine andere Art von Gerechtigkeit. Ich wünsche dir, dass du deinen Seelenfrieden finden kannst und dass du das nicht alleine alles durchstehen musst.

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